Befreit vereint. Radikales Neuschreiben von Beziehungskonzepten in der anarchistischen Frauenbewegung Argentiniens um die Jahrhundertwende

Christina Wieder

 

Im Jahr 1901 promovierte die Sozialistin Elvira Lopéz an der Facultad de Filosofía y Letras der Universidad de Buenos Aires mit einer Arbeit zu El movimiento feminista und untersuchte darin feministische Bewegungen in den USA, in Indien und anderen Ländern, insbesondere in Argentinien. Ohne sie namentlich zu nennen, doch mit eindeutigen Verweisen, beschrieb López in ihrer Studie die emanzipatorischen Positionen ihrer anarchistischen Zeitgenoss*innen als „utopías ridículas“, als „lächerliche Utopien“ und reproduzierte damit eine selbst in der feministischen Linken bestehende Haltung, die jede Form der Radikalität kategorisch ablehnte. Auch innerhalb der anarchistischen Bewegung Argentiniens erlebten Vertreter*innen radikal emanzipatorischer Positionen Marginalisierung, doch schufen sie sich mit der von 1896 bis 1897 erschienenen Zeitung La Voz de la Mujer (Die Stimme der Frau) zumindest vorübergehend eine Plattform, um ihre Forderungen und Anliegen zu artikulieren. Nicht nur bezogen sie zu lokalen und internationalen politischen Geschehnissen Stellung und konfrontierten Anarchisten aus den eigenen Reihen mit dem Vorwurf, ihre persönliche Freiheit über jene von Frauen zu stellen, auch entwarfen sie neue Formen familiärer, partner*innenschaftlicher sowie freund*inneschaftlicher Beziehungen. Die „unión libre“, die „freien Vereinigung“, sollte das Ideal des Zusammenlebens der Anarchist*innen um La Voz de la Mujer bestimmen und sich selbst von Vorstellungen romantischer Liebe, selbst in ihrer befreiten Form des „amor libre“ abgrenzen. In meinem Beitrag möchte ich mich der Konzeption der „freien Vereinigung“ in La Voz de la Mujer widmen und herausarbeiten, inwiefern diese erlaubte, nicht nur Liebesbeziehungen, Sexualbeziehungen oder Familienbeziehungen, sondern allgemein Gesellschaft neu und radikal frei zu denken.

 

Christina Wieder ist Historikerin und Kulturwissenschaftlerin. Sie promoviert am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien mit der Arbeit „Visuelle Transformationen. Das Exil der jüdischen Künstlerinnen Grete Stern, Hedy Crilla und Irena Dodal“ und am Institut für Romanistik der Universität Wien mit einem Projekt zu „Liebes-, Sexualitäts- und Familiendiskursen in der anarchistischen Frauenbewegung in Spanien und Argentinien“.  Seit 2016 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin und Lektorin am Schwerpunkt Visuelle Zeit- und Kulturgeschichte am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien. Gemeinsam mit Klaudija Sabo leitete sie das Forschungs- und Dokumentarfilmprojekt „Die Zweite Reihe des Filmexils“ (2015-2018). Überdies kuratierte sie zusammen mit Frank Stern und in Kooperation mit dem Filmarchiv Austria die Filmretrospektive FILM NOIR RELOADED (2015-2019). Sie war Junior Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK Wien) sowie Gastwissenschaftlerin am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin, am Instituto de Artes del Espectáculo der Universidad de Buenos Aires und an der Cinémathèque française. Derzeit ist sie Praedoc-Assistentin am Institut für Romanistik der Universität Wien im Bereich Spanische Literatur- und Kulturwissenschaften.