„Dienst an der Nation“ statt „Kampf“? Zur Radikalität der ersten bürgerlich-gemäßigten Frauenbewegung in Deutschland

Melanie Werner

 

Der Vortrag beruht auf den Erkenntnissen meiner Dissertation, die dem Verhältnis von sozialen Bewegungen zu sozialpädagogischen und wohlfahrtspflegerischen Theorien der Weimarer Republik nachgeht. Ausgehend von einem wissenssoziologischen, systemtheoretischen Ausgangspunkt (1) betrachte ich soziale Bewegungen im Allgemeinen und die Frauenbewegung im Besonderen als Kommunikationssysteme, die ihrer eigenen Logik folgen, auf die Irritation anderer Systeme zielen und damit gesellschaftliche Veränderungen provozieren. Hierfür entwickeln soziale Bewegungen eine eigene Form der Kommunikation, die „Protestkommunikation“ (2).

Im Gegensatz zu den englischen oder US-amerikanischen Suffragetten, aber auch zur Arbeiter*innenbewegung in Deutschland, war der Protest der bürgerlichen Frauenbewegung in Deutschland nie explizit radikal: Schon auf seiner ersten Generalversammlung bestimmte der Allgemeine Deutsche Frauenverein die Petition als die Protestform der Frauenbewegung. (3) Die bürgerliche Frauenbewegung in Deutschland forderte zwar das Recht auf Arbeit und Bildung, blieb aber mit dem Ideal der „geistigen Mütterlichkeit“ und der „sozialen Mission der Frau“ in einem bürgerlichen Geschlechterideal verhaftet. Aufmärsche oder gar gewalttätige Proteste waren der bürgerlichen Frauenbewegung fremd. Ihr Protest war der „Dienst an der Nation“.

Kann der „Dienst an der Nation“ eine Protestform sein? Ist er dazu geeignet gesellschaftliche Irritation hervorzurufen? In meinem Vortrag vertrete ich die These, dass der „Dienst an der Nation“ zwar zum einen Empören konnte, weil er familiäre Fürsorge ins öffentliche wendete. Zum anderen fungierte er aber auch als Deckmantel, um radikale Forderungen der Frauenbewegung zu forcieren, ohne sich ins gesellschaftliche Abseits zu manövrieren. In Anschluss an den Bewegungsforscher Joachim Raschke (4) kann der „Dienst an der Nation“ sowohl als Protestform einer Machtbewegung als auch einer Kulturbewegung gelesen werden. Als Kulturbewegung zielt der „Dienst an der Nation“ auf die Versöhnung einer als gespalten erlebten Gesellschaft. Als Machtbewegung ist dieser Dienst hingegen ein Instrument, um sich den Zugang zu allen gesellschaftlichen Teilbereichen zu erschließen. Dieses Changieren zwischen Macht- und Kulturbewegung ermöglichte es der bürgerlichen Frauenbewegung, eine „bürgerliche Radikalität“ zu entwickeln. Dies werde ich exemplarisch an der Art und Weise zeigen, wie der Begriff der „Nation“ in der Zeitschrift „Die Frau“ zwischen 1903 und 1933 verwendet wurde.

1 Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik: Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Frankfurt am Main, 1993.

 2 Heinrich W. Ahlemeyer, Soziale Bewegungen als Kommunikationssystem: Einheit, Umweltverhältnis und Funktion eines sozialen Phänomens, Opladen, 1995.

 3 Gertrud Bäumer, Die Geschichte der Frauenbewegung in Deutschland., in: Helene Lange/Gertrud Bäumer (Hrsg.), Die Geschichte der Frauenbewegung in den Kulturländern, Weinheim, Basel 1980[1901], S. 1–210, hier.

 4 Joachim Raschke, Soziale Bewegungen: Ein historisch-systematischer Grundriss, Frankfurt/New York, 1985. 

 

Melanie Werner, seit 2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften an der Technischen Hochschule Köln mit dem Themenschwerpunkt Theorie und Geschichte der Sozialen Arbeit.
2016-2021 Promovendin an der Leuphana Universität Lüneburg/ Bildungswissenschaften. Titel der Dissertation: Zum Verhältnis von frühen Theorien Sozialer Arbeit zu sozialen Bewegungen. Eine wissenssoziologische Annäherung anhand der Begriffsverwendung von „Volk“ und „Nation“.
Lehrbeauftragte an verschiedenen Hochschulen für Theorie und Geschichte der Sozialen Arbeit.